Wenn der Schwanz mit dem Hund wedelt

Zeichnung von LucilleClerc Zum Anschlag auf die Redaktion des Charlie Hebdo

Um es in den Worten des großen Satirikers Kurt Vonnegut auszudrücken: „Über ein Massaker lässt sich nichts Intelligentes sagen.“ Wohl aber lassen sich die Ursachen diskutieren.

Natürlich sind wir entsetzt über den Anschlag auf die Mitarbeiter des Satiremagazins Charlie Hebdo, und unser Mitgefühl gilt allen Angehörigen der Opfer sowie all jenen, die die schreckliche Tat mit ansehen mussten oder nur mit Glück überlebten. Die Vorstellung, von zottelbärtigen Schwerbewaffneten bedroht oder hingerichtet zu werden, für die dieses Leben nur ein Test für das nächste Leben ist, wird in den nächsten Wochen wohl noch viele Europäer den Schlaf kosten. 

In einigen Wochen aber wird der erste Schmerz sich gelegt haben, die Wellen der Solidarität werden nur noch in den Köpfen, nicht mehr aber auf den Straßen sein. Und dann wird alles weitergehen wie vorher. Bis zum nächsten Anschlag. So wie dieser Anschlag eigentlich auch nur der Anschlag nach dem Attentat im Jüdischen Museum in Brüssel ist, bei dem am 24. Mai 2014 vier Menschen von dem Algerienfranzosen Mehdi Nemmouche erschossen wurden. Zumindest in Europa.

Im Oktober wurden zwei Soldaten in Quebec von einem ISIS-Sympathisanten mit einem Auto überfahren. Im Jahre 2013 wurde der Spielmannstrommler Lee Rigby von Salafisten in London erst überfahren und dann in Stücke gehackt, drei Tage später ein französischer Soldat in La Défense niedergestochen. Und dann war da noch die Geiselnahme in Sydney im Dezember 2014. Und der Messerangriff auf französische Polizisten vier Tage später. Und der Marathon in Boston. Und die Londoner U-Bahn. Und die Züge in Madrid. Und die Twin Towers.

Und immer wieder: Das ist nicht der Islam. Das sind Fehlgeleitete, nur ein kleiner Prozentsatz. Gemäß dieser Logik war Deutschland in den Vierzigerjahren kein gefährlicher Ort für Juden, denn nur neun Prozent der deutschen Bevölkerung waren Mitglieder der NSDAP. Der Rest war eigentlich nur passiv drauf.

Ist der Terror nicht längst zu einer „Neuesten Meldung“ verkommen? Welche Chance hat man eigentlich, die eigene schleichende Abstumpfung zu bemerken? Wird es erst geschehen, wenn jeder Ort über 10.000 Einwohner in der westlichen Welt das Attribut „Schauplatz von“ erhalten hat?

Haben wir auch Fehlgeleitete? Pegida, lese ich jeden Tag. Hasserfüllt, ignorant, eine Gefahr. An dem Begriff „Patriotische Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes“ stören mich vor allem zwei Dinge: patriotisch und Abendland. Patriotismus ist, wenn man sich die schönen Anteile des eigenen Kulturkreises herauspickt und den negativen Teil ignoriert. Abendland riecht mir nach „christlichem“ Abendland. Vor allem aber lenkt es vom Hauptproblem ab: der Religion, oder besser, der Überschätzung ihres gesellschaftlichen Wertes, ob christlich oder islamisch.

Was ist mit denen, die den Islam aus der simplen Annahme in Schutz nehmen, dass Religion besondere Berücksichtigung verdiene? Ist dieser pauschale Freispruch nicht eben so ein Vorurteil? Reagieren nicht auch sie blind, weil sie ungeprüft glauben, den wahren Feind in Pegida bereits ausgemacht zu haben? Bedeutet Toleranz dann, dass man sich die schönen Teile des anderen Kulturkreises herauspickt und den negativen Teil brav ertragen lernt, weil jemand sich sonst gestört fühlen könnte?

In einem Gespräch mit Tim Rutten von der Los Angeles Times brachte Christopher Hitchens es im Jahre 2007 auf den Punkt: Religion ist nur die eine Hälfte des Problems. Die andere Hälfte ist unsere Nachsicht mit ihr.

Als Salman Rushdie wegen der Veröffentlichung der Satanischen Verse mit dem Tode bedroht wurde, forderte Robert Runcie, der damalige Erzbischof von Canterbury, nichts Geringeres als eine Verschärfung der englischen Blasphemiegesetze, denn er sah die Religion als Idee bedroht. Kein Wort über die erstochenen Übersetzer des Werkes oder die Fatwa des Despoten in Teheran.

Im Streit um die Mohammed-Karikaturen des dänischen Zeichners Kurt Westergaard wurde der damalige dänische Ministerpräsident Rasmussen von elf Botschaftern muslimischer Länder gebeten, die Karikaturen verbieten zu lassen. Erst als er erwiderte, das stünde wegen der Meinungsfreiheit nicht in seiner Macht, begann der Flächenbrand.

Erinnern Sie sich noch, wie lange Sie das Internet absuchen mussten, um diese Karikaturen zu finden? Niemand traute sich, sie zu veröffentlichen. Die Aussicht auf rohe Gewalt ließ fast jede Zeitung der westlichen Welt verstummen. Und damit hatten sie bereits verloren, das Knie gebeugt, der Scharia lautlos zugestimmt.

Die Extremisten, so Hitchens damals, sind der Schwanz, der mit dem ganzen Hund wedelt.

Denn Ali der Gemüsehändler, der seinen Kunden Frohe Weihnachten wünscht und auch mal ein Feierabendbier oder eine Löwenmilch trinkt, ist weder das Thema noch das Problem. Das Problem sind diejenigen, die Ali vorwerfen, kein richtiger Muslim zu sein. Es sind die, die ihn zwingen wollen, sich zu entscheiden zwischen uns und ihnen.

Denn die höchste Instanz in einer beliebigen Europäischen Nation ist der Staat. Er bestimmt, nach welchen Gesetzen wir uns zu richten haben, definiert unsere Handelspolitik mit anderen Nationen und baut Schulen und Krankenhäuser. Die höchste Instanz in der islamischen Welt ist Allah. Er bestimmt alles. Was immer geschieht, ist sein Wille. Der Tod eines Neugeborenen, eine gelungene Ernte, eine glückliche Ehe und die Anleitung zum Schlachten von Ziegen sind seine Werke. Sie sind schön, weil sie von IHM sind.

Und er hat uns Gesetze gegeben. Jeder, der weltliche Gesetze zwischen die Menschen und Allah zu schieben versucht, meint es also besser zu wissen als ER. Solche Abscheulichkeiten müssen überall auf der Welt beseitigt werden. Gemeint ist unter anderem unser Grundgesetz.

Denn der Islam hat nicht gerade geringe Ansprüche in dieser Welt. Er ist die letzte gültige Religion, die einzig wahre Religion, die perfekte Religion. Genau wie man es von einer Bewegung erwarten muss, die zum dritten Mal versuchte, den gleichen Landstrich einzunehmen.

Mohammed ist in dieser Religion das perfekte menschliche Wesen in der Rolle des ewigen Präsidenten, um mal eine Formulierung aus Nordkorea zu leihen, wo ebenfalls ein kniffliges Gemisch aus allgegenwärtiger Überwachung, dauernder Gängelung und moralischer Bewertung des Individuums sowie drakonischen Strafen die Gesellschaft beherrscht. Diese als Konsequenz dann verlassen zu wollen ist natürlich die größtmögliche Sünde, denn anders kann eine solche Gesellschaft nicht funktionieren, sofern sie es nach modernen Maßstäben überhaupt tut.

Der Islam ist perfekt, Menschen sind es nicht. Wann immer etwas wie in jetzt Paris passiert, sind Menschen schuld, nicht ihre Religion. Wenn das Geschehene dann von unglaublicher Grausamkeit ist, kann es sich nur noch um eine zionistische Verschwörung handeln. Das ist der perfekte Weg, um immer so weiter zu machen und niemals etwas zu verändern.

In Tunis verabschiedeten die Innenminister von 17 arabischen Staaten am 31.Januar 2006 eine Resolution, der zufolge die dänische Regierung die Urheber der Karikaturen „streng bestrafen“ müsse. Wenn in Frage steht, ob die Scharia als eine rein muslimische Sache gedacht ist, dann ist hier die Antwort. Sie läuft außer Konkurrenz, und sie muss Vergleichsmöglichkeiten vernichten, wenn sie gut dastehen soll.

Dies sind keine extremistischen Auslegungen des Islam. Dies sind Sichtweisen, die der Islam von allen Muslimen fordert, und wenn gemäßigte Muslime an die Möglichkeit eines Kompromisses glauben, dann irren sie. Sie sind fehlgeleitet, möge Allah sie rechtleiten. Die harmloseren unter den Rechtgeleiteten ziehen sich dann orangene Westen an und spielen Polizei in Wuppertal, andere laden die Waffen durch.

Poes Gesetz (nach Nathan Poe) besagt, dass eine extremistische Sichtweise, wenn sie nur extrem genug ist, nicht mehr von ihrer eigenen Parodie unterschieden werden kann.

Wenn wir die Augen verschließen, wenn wir brav sind, als würden wir verzweifelt neue Herren suchen, dann liefern wir Gemüse-Ali versehentlich den Extremisten aus, während unsere Islam- und Religionsversteher ihn vor Pegida zu schützen versuchen. Wenn wir die Parodie weglassen, dann reist der Extremismus ohne Begleiter. Denn zuweilen neigen Religionen dazu, von Teilen ihrer Anhänger nicht mehr als Glaube, sondern als Gewissheit aufgefasst zu werden. Es ist unser aller Pflicht, sie regelmäßig an den Unterschied zu erinnern.