Gottesbezug in der Schleswig-Holsteiner Landesverfassung

Beschneidung Bundestag Stellungnahme der gbs-Hamburg

Eine fraktionsübergreifende Initiative will den Glauben an einen Gott als herausgehobene Quelle gemeinsamer Werte in der Landesverfassung verankern. Ein entsprechender Gesetzentwurf wurde Mitte April in den Kieler Landtag eingebracht.
Die gbs-Hamburg wurde von der Piratenpartei Schleswig-Holstein gebeten, zu der Angelegenheit Stellung zu nehmen. Lesen Sie hier unsere Argumente:

Sachverständigen-Stellungnahme zum Entwurf eines Gesetzes zur Änderung der Verfassung des Landes Schleswig-Holstein, Drucksache 18/4107

Wir, die Hamburger Regionalgruppe der Giordano Bruno Stiftung, wurden freundlicherweise gebeten, eine Stellungnahme zum Entwurf eines Gesetzes zur Änderung der Verfassung des Landes Schleswig-Holstein anzufertigen. Im Folgenden möchten wir Ihnen, verehrte Abgeordnete, unsere Sichtweise darlegen.

1. Zum Ausmaß der Initiative

Etwa 42.000 Menschen haben die Petition unterzeichnet, die dem Landtag den Antrag auf Änderung der Schleswig-Holsteinischen Verfassung erneut vorlegen soll. Das ist eine gewaltige Zahl, sicherlich, aber sie ist nicht überraschend groß. Etwa 60 % der Bevölkerung Schleswig-Holsteins sind Christen, etwa 40 % sind konfessionslos, der Rest zahlenmäßig weitestgehend vernachlässigbar.

Es stellt sich die Frage, wie viel Prozent der registrierten Christen nun auch tatsächlich regelmäßig in die Kirchen gehen. Setzt man in Ermangelung passenderer Daten die bundesweiten Zahlen der Deutschen Bischofskonferenz für 2015 zugrunde, so würden 10,9 % der Christen regelmäßig einen Gottesdienst aufsuchen1. Die erhobenen Zahlen der DBK gelten allerdings für Katholiken; im Protestantentum dürfte die Zahl geringer sein.

Von den 1,68 Millionen Christen in Schleswig-Holstein gingen basierend auf diesen Zahlen dann etwa 180.000 regelmäßig in ihre Gotteshäuser. Wenn dort zur Teilnahme an der Petition aufgerufen wurde und Klemmblöcke zum Leisten der Unterschrift bereitlagen, so haben 42.000 von etwa 180.000 oder weniger als ein Viertel der kirchgehenden schleswig-holsteinischen Christen die Petition unterzeichnet. Von allen 1,68 Millionen Christen Schleswig-Holsteins haben lediglich 2,5 % das Anliegen für unterstützenswert gehalten.

Es scheint also selbst den Christen im Land der Horizonte kein Herzensanliegen zu sein, einen Gottesbezug in die Verfassung aufzunehmen. Man kann den religiösen Organisationen keinen mangelnden Einsatz für ihre Sache vorwerfen; hat es ihnen an Dynamik und Beweglichkeit doch noch nie gefehlt. Es scheint aber offensichtlich, dass ein Gottesbezug in der schleswig-holsteinischen Verfassung trotz allem Lobbyismus nur das Anliegen einer Minderheit ist, und dass selbst der Großteil der Christen in Schleswig-Holstein kein Interesse an einem Gottesbezug hat.

Demgegenüber steht noch ein Trugschluss, auf den unbedingt hingewiesen werden sollte. Das menschliche Gehirn macht es sich gerne einfach, und solange man nicht angestrengt darüber nachdenkt, scheint es nur zwei Gruppen zu geben: diejenigen Gläubigen, denen der Gottesbezug ein Anliegen ist, und diejenigen, die es nicht interessiert. In dieser vereinfachten Version fehlt allerdings die Gruppe derjenigen, denen es tatsächlich ein Anliegen ist, Gottesbezüge aus der Verfassung fern zu halten. Diese Gruppe ist keine Minderheit „radikaler Atheisten“. Auch ein Großteil der Christen Schleswig-Holsteins scheint dieser Auffassung zu sein, denn sonst wären mit Sicherheit andere Unterschriftenzahlen zustande gekommen.

2. Begründung für die Initiative

In der Sitzung des Landtages vom 29. April wurde gemäß Protokoll darauf verzichtet, eine Begründung für den Tagesordnungspunkt zu liefern. Zweifelsohne ist es den Religionsgemeinschaften wichtig, einen Gottesbezug in die Verfassung zu setzen. Das allein kann aber als Begründung nicht genügen.

Mit einer derart gestalteten Begründung könnte auch eine Gruppierung wie Scientology Ansprüche auf die Verfassung geltend machen, denn auch sie handeln in der Überzeugung, den Menschen etwas Gutes zu tun, und niemand würde an einem L. Ron Hubbard-Bezug in der Verfassung Schaden erleiden. Warum also nicht? Das kann als Argument nicht gelten.

Auch ein Argument wie „Was schadet es denn schon?“ kann nicht überzeugen. Die Abwesenheit von Gegenargumenten kann kein Argument für die Sache sein.

Es erinnert an das berühmte Teekannen-Argument des britischen Philosophen Bertrand Russel: Ich behaupte, dass eine Teekanne den Jupiter umkreist. Wenn Sie mir nicht das Gegenteil beweisen können, dann heißt das noch lange nicht, dass diese Teekanne existiert.

3. Warnungen aus der Geschichte

Als weiteres Argument für den Gottesbezug wird zuweilen angeführt, dass die schlimmsten Regime diejenigen waren, die „den Menschen zum Maß aller Dinge erhoben“ haben. Es gibt dieses Argument in verschiedenen Ausführungen und Formulierungen, bezieht sich aber immer auf den Nationalsozialismus und den Kommunismus. In der Tat haben diese beiden Gesellschaftsformen im 20. Jahrhundert entsetzlich viel Leid über die Menschen gebracht. Bei genauerer Betrachtung können diese Beispiele aber nicht als Argument für einen Gottesbezug in der Verfassung herhalten.

Der Nationalsozialismus war alles andere als atheistisch. Hitler selbst war zeit seines Lebens römisch-katholisch und wurde von seiner Kirche bis auf den heutigen Tag nicht exkommuniziert. Joseph Göbbels hingegen wurde exkommuniziert, als er Magda heiratete, eine Protestantin (noch dazu geschieden). Zu Beginn des Dritten Reiches hatte der Deutsche Freidenkerbund, die größte atheistische Vereinigung im Lande, 650.000 Mitglieder und eine eigene Zeitung. Bereits im März 1933 wurde die Vereinigung aufgelöst, das Vermögen beschlagnahmt, der Präsident Max Sievers (er befand sich bereits im Exil in Brüssel) offiziell ausgebürgert und 1944 im Zuchthaus Brandenburg-Görden hingerichtet. Das Gebäude des Freidenkerbundes wurde (ich erfinde nichts!) noch im März 1933 in eine „Reichszentrale zur Bekämpfung des Gottlosentums“ umgewandelt.

Es gibt viele widersprüchlich wirkende Aussagen Hitlers über seinen Glauben. Er ließ zweifellos viele Christen und Priester hinrichten oder verschleppen. Ihre Christlichkeit diente jedoch selten als Begründung, meistens war es die fehlende Treue zu seiner Sache. Wir müssen die Bestrebungen all jener christlich motivierten Männer und Frauen anerkennen, die Opfer des Nationalsozialismus wurden. Es ist unklar, ob Hitlers Verbrechen an der Menschheit nun christlich motiviert waren oder nicht. Eines aber ist sicher: er erkannte die Bedeutung der Kirchen als weltpolitische Größe und musste sich ihre Hilfe zusichern, denn ihre Bindungskraft auf den Menschen ist eine Ressource, die ein jeder Usurpator verlockend finden muss.

Die Kirchen sind keinesfalls für den Holocaust verantwortlich, jedoch ist die von der katholischen Kirche damals noch vertretene These der Kollektivschuld der Juden am Tod Jesu Christi sicherlich als Begründung einladend gewesen. Erst im Zweiten Vatikanischen Konzil in den Sechziger Jahren rückte die Kirche von dieser Kollektivschuld-These ab und macht seitdem nur noch die zeitgenössischen Individuen von damals verantwortlich, und nicht mehr die Juden als Volk. 

Kann man angesichts dieser Tatsachen noch davon ausgehen, dass der Mensch sich im Dritten Reich zum Maßstab aller Dinge gemacht hat? Nein. Vielmehr ließ dieses Regime es an Verantwortung gegenüber allen Mitmenschen mangeln. Und der christliche Glaube hat daran offensichtlich wenig ändern können.

Was den Kommunismus angeht, so ist der Sachverhalt etwas anders gelagert. Der Kommunismus war inhärent religionsfeindlich. Es ist auch wahr, dass der Kommunismus im Herzen atheistisch ist. Er lehnt den Gedanken an ein Leben nach dem Tode ebenso ab wie eine irdische Verantwortung vor dem Schöpfer des Universums, denn gemäß kommunistischer Lehre gibt es ihn nicht. Das ist durchaus ein atheistischer Standpunkt.

Allerdings ist wichtig anzumerken, dass die Verbrechen des Kommunismus nicht aus den Atheismus heraus getan wurden, der lediglich eine Verneinung alles Übernatürlichen ist. Vielmehr wurden die Verbrechen im Namen von etwas begangen, nämlich einer Idee, die in ihrer Selbstherrlichkeit, ihrem missionarischen Eifer, ihrer konsequenten Nichtduldung von Alternativen, im Einfordern von bedingungslosem Gehorsam und der systematischen Unterdrückung von kritischem Denken viel mehr einer Religion ähnelte als einen skeptischen Weltbild, das den heutigen Atheismus der westlichen Welt auszeichnet. Der Kommunismus lehnte die Religion ab, da er allein seligbringend war; versprach er doch nichts Geringeres als „das Paradies auf Erden“, sobald die ganze Erde kommunistisch sei. Er sah in transzendenten Religionen lediglich Konkurrenz, die es zu beseitigen galt.

Sowohl der Nationalsozialismus als auch der Kommunismus zeichneten sich durch einen erheblichen Materialismus und Biologismus aus; die Annahme also, dass aus den Mechanismen der Natur abzuleiten wäre, wie eine Gesellschaft zu gestalten sei. Beide Regime haben den Fehler gemacht, den Darwinismus, der als wissenschaftliche Disziplin nichts anderes will als die Mechanismen der Natur fehlerfrei zu beschreiben, zum ethischen Gesetz zu erheben. Der Nationalsozialismus war überzeugt vom „Recht des Stärkeren“, der Kommunismus wollte einen „neuen Menschen“ erschaffen. Im Dritten Reich wurde darüber hinaus eine „Deutsche Physik“ propagiert, die die Welt quantenmechanisch beschreiben will und mit der „jüdischen Relativitätstheorie“ nicht vereinbar ist. Der sowjetische Biologe Trofim Lyssenko leugnete gemäß kommunistischer Doktrin die Existenz von Erbanlagen und war überzeugt davon, dass Weizen sich in winterharten Roggen verwandeln könne, wenn man ihn einfach nur im sibirischen Permafrost anbaute. Stalin glaubte ihm, große Mengen Weizen gingen verloren, Hungersnöte brachen aus und kosteten Millionen Menschenleben.

Was diese beiden Regime also auszeichnete, war einerseits eine Kooperation mit Religionen als Partner, andererseits ihre Beseitigung als Konkurrenz sowie der Versuch, deskriptive wissenschaftliche Konzepte in normative Regelwerke umzuwandeln. Hier hat der Mensch sich nicht „zum Maß aller Dinge“ gemacht, sondern Wissenschaft zu pseudoreligiösen Zwecken missbraucht. Darüber hinaus wäre es zutiefst bedauerlich, wenn der heutige Mensch nur Gutes tun könne, weil er sich im Zweifel vor einen wie auch immer gearteten Schöpfer verantworten muss. Gutes ist in uns; es ist evolutionär entstanden, weil eine kooperierende Gruppe größere Überlebenschancen hat als streitsüchtige Egoisten. Es gibt zahllose Filmaufnahmen von selbstlosem Handeln im Tierreich, das nicht nur den eigenen Nachwuchs betrifft, sondern speziesübergreifend wirkt.

4. Ableitungen aus der Geschichte

In der 119. Sitzung des Landtages am 29. April wurde argumentiert, dass die amerikanische Verfassung, die ohne transzendente Bezüge auskommt, philosophisch von John Locke beeinflusst wurde, der wie viele andere Philosophen vor und nach ihm die Menschenrechte aus seinem Gottesglauben ableitete. 

Aus Diskussionen über das Verhältnis von Wissenschaft und Religion ist mir ein analoges Argument bekannt: hier wird von Seiten der Apologeten argumentiert, dass Isaac Newton, Dimitri Mendelejew, Max Planck und viele andere Naturwissenschaftler religiös waren und ihre Arbeit aus ihrem Glauben abgeleitet haben. Der umstrittenste unter ihnen ist bis heute Albert Einstein, der mit verschiedenen Zitaten unermüdlich von beiden Seiten herangezogen wird.

Isaac Newton war religiös und er entdeckte die Gesetzmäßigkeiten der Gravitation. Er verbrachte aber auch einen beträchtlichen Teil seines Arbeitslebens mit Alchemie und wähnte sich von Gott auserwählt genug, nach einem Bibel-Code zu suchen, mit dem sich die Zukunft voraussagen ließe. Dimitri Mendelejew entwickelte das Periodensystem der Elemente, sortierte damit die Bausteine des Universums trotz der Widersprüche in ihren Eigenschaften. Er war ebenfalls sehr religiös, und es ist für uns heutige Menschen schwer sich vorzustellen, dass dieser Mann allen Ernstes die Existenz von Atomen leugnete. Max Planck, einer der Begründer der Quantenphysik, war ebenfalls religiös. Er wusste bereits von der Sinnlosigkeit der Alchemie und der Existenz von Atomen; seine Religiosität kann sich bestenfalls rühmen, ihm bei seiner Arbeit nicht im Wege gestanden zu haben, weder direkt durch Verbote noch indirekt durch Verschwendung von Zeit und Ressourcen bei dem Versuch, eine Alternative zur wissenschaftlichen Methode zu eröffnen.

Wenn sich daraus etwas ableiten lässt, dann dass die persönlichen Vorstellungen einzelner Wissenschaftler nicht zum Maßstab taugen. Wissenschaft ist angewandte Schwarmintelligenz. Die Fehler des Einzelnen werden durch gegenseitige Überprüfung und Verbesserung des Gesagten aus dem Prozess eliminiert, so dass das Endergebnis die Realität so akkurat wie möglich beschreibt. Hier ist der Zweifel die Mutter des Erkenntnisgewinns. Nichts bewirkt in der Welt gründlicheren Intellektuellen Stillstand als zu glauben, man wüsste bereits genug.

Prinzipiell gilt das Gleiche für Staatengründer und ihre Verhältnis zur Religion. Es ist zutreffend, dass so gut wie alle Gründerväter und Staatsrechtler des 18. und 19. Jahrhunderts religiös waren. Wir müssen uns aber auch vorstellen, dass ein Mann wie Thomas Jefferson auf seinem Landsitz Monticello in Virginia abends an seinem Schreibtisch an Sätzen wie „Alle Menschen sind gleich und haben ein Recht auf das Streben nach Glück“ bastelte, während er sich bei seiner Sklavin Sally Hemings einen Kaffee bestellte und sie bei dieser Gelegenheit anwies, sich doch etwas Hübsches anzuziehen und schon mal das Bett vorzuwärmen, er wäre hier gleich fertig mit der Freiheit aller Menschen und danach noch nicht wirklich müde.
Es stellt sich eigentlich nicht die Frage, was Jefferson aus unserer heutigen Sicht hätte tun sollen, sondern was zu seiner Zeit im Bereich des Machbaren lag. Hier haben er und seine Gründerkollegen ganze Arbeit geleistet und eine Verfassung vorgelegt, die nur Ergänzungen aufgrund fortschreitender Entwicklungen benötigt, in ihrem Kern aber zeitlos gültig ist.

Noch vor wenigen Jahrzehnten war Homosexualität in Deutschland ein Verbrechen. Eine Sünde auch, sicher, aber auch weltlich gesehen ein Verbrechen. Tierschutz gab es nur wenig und beschränkte sich weitestgehend auf aussterbende Tierarten. Es gab kein Wahlrecht für Frauen, und sie brauchten die Erlaubnis ihres Gatten, wenn sie ein Anstellungsverhältnis eingehen wollten. Noch im Jahre 1997 stimmten große Teile des Bundestages dagegen, die Vergewaltigung in der Ehe unter Strafe zu stellen. Es hatte 25 Jahre gedauert, bis dieser Unsinn endlich abgeschafft war. Im Nachhinein erscheint mancher christlich abgeleitete Wert als Ungeheuerlichkeit. Ethik entwickelt sich ununterbrochen weiter. Das Wort Moral stammt hingegen aus dem lateinischen mores und bedeutet Sitten, ist also nichts weiter als eine Beschreibung des Ist-Zustandes in einer Gesellschaft. Christliche Moral, islamische Moral etc. haben nur das Anliegen, ethische Weiterentwicklungen zu vermeiden, und können daher selten zukunftsweisend sein. Der Protestantismus hat die katholische Lehre zwar weiterentwickelt, indem er das Zölibat abschaffte und Frauen ins Priesteramt ließ, machte dann aber halt und zeigt sich heute bei wichtigen ethischen Fragen wie Sterbehilfe oder der Präimplantationsdiagnostik wenig modern.

Christliche Werte und ihre Grenzen – das Trolley-Problem

Stellen Sie sich vor, Sie stehen an einem Bahngleis, und es nähert sich ein Waggon. Er droht die Weiche direkt vor Ihnen zu passieren und fünf Menschen zu überfahren. Sie können, da Sie zufällig in der Nähe der Weiche stehen, rechtzeitig den Hebel umlegen und den Waggon damit auf ein anderes Gleis führen, wo nur ein Mensch steht. Ihre Optionen sind also:

  1. Sie tun nichts und lassen damit fünf Menschen sterben
     
  2. Sie greifen ein, retten damit fünf, aber töten einen Menschen aktiv und absichtlich.

Eine schwierige Situation. So mancher mag sich einbilden, dass es noch eine dritte Option gäbe: auf die Knie fallen und für die Seelen derer beten, die gleich sterben werden. Das aber ist keine dritte Option; es ist Option eins, erweitert um den Wunsch, mit der ganzen Sache nichts zu tun zu haben und Verantwortung nach oben abzugeben. 

In einer Umfrage aus dem Jahre 2009 gaben 67 Prozent der weltweit befragten Philosophen an, sie würden den Hebel umlegen. Ein beträchtlicher Teil verweigerte schlicht die Antwort2.

Das Trolley-Problem mag sehr modellhaft klingen, doch es ist realer als wir es uns wünschen. Unterm Strich geht es um die Frage, ob es genügt, Leiden nur zu minimieren. Es ist die gruselige Frage, ob man Leiden oder Tod gegeneinander aufrechnen kann. Ein Dilemma, dem sich die Militärs der Welt tagtäglich gegenüber sehen.

Hätte man die Flugzeuge abschießen dürfen, die im September 2001 auf die Twin Towers zurasten? Einige hundert Passagiere töten, um 3.000 Menschen und die Türme zu retten? Das ist die gleiche Frage. Das Bundesverfassungsgericht hat im Jahre 2006 beschlossen, dass es die Menschenwürde verletzt, Unbeteiligte in einem Flugzeug zu töten, das gegen das Leben von Menschen eingesetzt werden soll3. Ich erwähne das nur, falls es Sie interessiert, in was für einem Staat Sie leben.

Wie immer Sie sich an der Weiche auch entscheiden würden, eines ist klar: ethische Fragen sind zuweilen nicht annähernd so  leicht zu beantworten, wie man es sich wünscht. Umso misstrauischer sollte man sein, wenn jemand ernsthaft behauptet, es sei in Wirklichkeit alles ganz einfach, hier sind die Regeln, vergiss dieses Leben, es geht nur um das Kommende. Noch erstaunlicher ist, dass die göttliche moralische Ordnung gegenüber Fragestellungen wie dem Trolley-Problem genauso hilflos dasteht wie jeder Durchschnittsbürger. Gibt es eine religiös fundierte, klare Antwort auf das Trolley-Problem? Uns ist bisher keine bekannt. 

Die Kirchen haben die Moral, heißt es oft, und zwar von Gott. Sehe man doch nur all das Gute, das in der Bibel steht.

Seien wir ehrlich, in der Bibel steht so manches. Hier wird Feindesliebe gepredigt, dort ruft Gott zum Völkermord an den Amalekitern auf. Woher aber weiß der moderne Christ, welche dieser Werte er zur Grundlage seines Weltbildes machen soll? Immerhin sind die Christen, die für Samstagsarbeit an der Tankstelle die Steinigung fordern wie sinngemäß im Buch Numeri beschrieben4, heute mit der Lupe zu suchen.

Interessant daran ist, dass der moderne Christ bei einigen Stellen in der Bibel tiefste Abscheu empfindet, während ihm andere Stellen ethisch zusagen. Wie kann das sein, wenn wir unsere Moral aus der Bibel oder von Gott haben?

Anders gefragt: was braucht der moderne Mensch, um zwischen hässlichen, unnötig gewalttätigen, geradezu blutrünstigen Passagen der Bibel und einer schönen, versöhnlichen, modernen Moral in der Bibel zu unterscheiden? Richtig, eine moderne Moral. Wenn diese aber nur teilweise der Moral der Bibel entspricht, kann sie nicht aus der Bibel stammen. Wir würden sonst gar nicht anders können, als zu jedem salomonischen Urteil und jeder drakonischen Strafe der Bibel Ja und Amen zu sagen, eben weil es uns ethisch ansprechen würde. Es würde bedeuten, dass Moral sich nicht weiterentwickeln kann. Das aber tut sie, wie bereits erläutert, ununterbrochen.

Es scheint also, als wäre es ein Trugschluss, wenn man seine ethischen Werte von Gott bezieht; man besitzt sie von vornherein und dichtet sie ihm lediglich wohlwollend an.

Abschließende Einschätzung

Der Wunsch nach einem Gottesbezug in der schleswig-Holsteinischen Verfassung ist anscheinend hauptsächlich das Anliegen von Kirchen und Religionsgemeinschaften, transportiert auf dem Rücken einer Minderheit. Der bisherige Entwurf einer Formulierung ist darüber hinaus recht sperrig.
Die „universellen Werte“ sind in Wirklichkeit nicht universell. Ein Blick auf die „Kairoer Erklärung der Menschenrechte im Islam“ macht schnell deutlich, dass ein gewisser Gesprächsbedarf nach wie vor besteht. So besagt die Erklärung in Artikel 2 etwa:

„a) Das Leben ist ein Geschenk Gottes, und das Recht auf Leben wird jedem Menschen garantiert. Es ist die Pflicht des einzelnen, der Gesellschaft und der Staaten, dieses Recht vor Verletzung zu schützen, und es ist verboten, einem anderen das Leben zu nehmen, außer wenn die Scharia es verlangt.

d) Das Recht auf körperliche Unversehrtheit wird garantiert. Jeder Staat ist verpflichtet, dieses Recht zu schützen, und es ist verboten, dieses Recht zu verletzen, außer wenn ein von der Scharia vorgeschriebener Grund vorliegt.“

Die westliche Welt hat sich weitestgehend von der Todesstrafe und körperlicher Bestrafung wegentwickelt. Das ist im Islam derzeit anders gelagert. Besonders der etwa hundert Jahre alte wahabitische Islam, der von Saudi-Arabien und Qatar mit großen Budgets in die Welt exportiert wird , besteht auf einer wortwörtlichen Lesart des Korans und der Sunna, die das Leben des Propheten zum Vorbild für alle Muslime macht. Nach dieser Lesart ist Demokratie als menschgemachtes Regelwerk der gottgegebenen Scharia grundsätzlich unterlegen, ja sogar eine menschliche Anmaßung, die es zu bekämpfen gelte. Hier teilen sich die Wahabiten und Salafisten in zwei Gruppen: einerseits die Islamisten, die das islamische Regelwerk auf politischem Wege für den Staat einfordern, in dem sie leben, und andererseits die Dschihadisten, die dasselbe Ziel mit Waffengewalt erreichen wollen. In ihrer Lehre unterscheiden sie sich nicht.

Wer aber ein religiöses Gesetz über die weltlichen, menschgemachten Gesetze erhebt, der hat für einen Gottesbezug in einer Landesverfassung tiefergehende Motive, die nach einem erfolgten Gottesbezug keinesfalls befriedigt sein werden. Hier von „universellen Werten“ zu sprechen kann bestenfalls auf einer Verkennung der Sachlage basieren.

Unser Vorschlag: „In Verantwortung und Verpflichtung gegenüber dem Mitmenschen, in Würde und Selbstachtung“

Hochachtungsvoll,

Burger Voss (geborener Schleswig-Holsteiner)

2. Vorsitzender der Hamburger Regionalgruppe der Giordano Bruno Stiftung

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1 http://www.dbk.de/fileadmin/redaktion/Zahlen%20und%20Fakten/Kirchliche%20Statistik/Allgemein_-_Zahlen_und_Fakten/AH_275_DBK_Zahlen_und_Fakten_final.pdf

2 What Do Philosophers Believe? David Bourget and David J. Chalmers November 30, 2013, gelesen auf http://philpapers.org/archive/BOUWDP

3 http://www.bverfg.de/entscheidungen/rs20060215_1bvr035705.html

4 Numeri 15, 32-36:  „32 Und als die Söhne Israel in der Wüste waren, da fanden sie einen Mann, der am Sabbattag Holz auflas. 33 Und die ihn gefunden hatten, wie er Holz auflas, brachten ihn zu Mose und zu Aaron und zu der ganzen Gemeinde. 34 Und sie legten ihn in Gewahrsam, denn es war nicht genau bestimmt, was mit ihm getan werden sollte. 35 Da sprach der HERR zu Mose: Der Mann soll unbedingt getötet werden die ganze Gemeinde soll ihn außerhalb des Lagers steinigen. 36 Da führte ihn die ganze Gemeinde vor das Lager hinaus, und sie steinigten ihn, dass er starb, so wie der HERR dem Mose geboten hatte.“