Kritischer Kabul-Kommentar:
Frieden unter den Taliban?

Kabul. Hunderte, vielleicht tausende Menschen rennen panikartig, verschleiert, in Anzügen oder Pluderhosen, mit Koffern und Taschen, alle in eine Richtung – zum Flughafen von Kabul. Eine bedrohliche, fast gespenstische Szene. Die Taliban haben Kabul erobert. Rette sich wer kann!

Verzweifelte Menschen sollen sich an startende Flugzeuge gehängt haben und dann über den Häusern abgestürzt sein. Tausende haben mittlerweile das Flugfeld besetzt, verhindern somit weitere Starts und Landungen von Rettungsflugzeugen.

Am Sonntag, dem 15. August, hatte die afghanische Regierung praktisch kampflos kapituliert, Präsident Aschraf Ghani fluchtartig das Land verlassen. In Richtung Tadschikistan, heißt es. „Mit einem Hubschrauber voll Geld“, titelt die Bild-Zeitung.

Die Bilder erinnern an Saigon 1975, das Ende des Vietnamkriegs, als die letzten Amerikaner sich panikartig aus dem Staube machten, Helfer und Helfershelfer in Saigon massenhaft im Stich ließen.

Auch die deutschen Bundeswehr-Truppen verlassen hastig das Land. Bundesaußenminister Heiko Maas sagt am Sonntagabend, noch im Laufe des Tages würden die ersten Angehörigen ausgeflogen. Und Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer kündigte an: „Unser Ziel ist es, dass wir – solange es die Möglichkeiten vor Ort erlauben – so viele Menschen wie möglich aus Afghanistan rausbringen werden.“ Nun sollen die Jungs von der Fallschirmjägertruppe eingeflogen werden, um rauszuholen, was noch geht. Doch zurückbleiben werden viele afghanische Helfer und Helfershelfer, „Ortskräfte“, die den 20-jährigen Einsatz deutscher Soldaten unterstützt und begleitet haben, Vertreter der NGOs, der Medien. Wie sicher sind sie noch?

Und zurückbleiben auch Fragen über Fragen:

  • Was wird sein, wenn die islamistischen Taliban ganz wieder die Macht erobert haben? Wieder Herrschaft der Sharia, finsteres Mittelalter, grausame Terrorherrschaft? Menschen, die früher Augenzeugen wurden, berichten von unwahrscheinlichen Gräueln (http://www.rawa.org/murder-w.htm). Vor allem Frauen und Mädchen waren bislang die Opfer: Sie werden unter das hellblaue Sackleinen der Burka gesteckt, mit Blick nur durch ein Gitterfensterchen, dürfen nicht arbeiten, Mädchen ab dem 8. Lebensjahr nicht mehr zur Schule gehen. Wer geheim einen Unterricht besuchte, riskierte die Todesstrafe (https://de.wikipedia.org/wiki/Frauenrechte_unter_den_Taliban). Das Schicksal des mutigen Mädchens Malala, das sich für das Schulrecht der Mädchen einsetzte, ist bekannt: Malala wurde angeschossen und schwer verletzt. Immer wieder wurden Frauen auf offener Straße geschlagen oder umgebracht, wenn sie den aus dem Koran abgeleiteten Vorschriften der Taliban nicht freiwillig folgten.
  • Schlechter nur ergeht es Nicht-Muslimen, den nach dem Koran „Ungläubigen“, also Humanisten, Freidenkern, Apostaten, Atheisten, die es in Afghanistan auch gibt. (https://atheist-refugees.com/criminalization-of-religious-criticism-and-apostasy/; https://humanists.international/blog/meet-josef-moradi-the-afghan-atheist-who-fled-to-norway-to-find-freedom/; https://en.wikipedia.org/wiki/Irreligion_in_Afghanistan)
  • Die Bild-Zeitung, die ja stets gerne den Ober-Zensor spielt, freut sich: „Kanzlerin gibt Scheitern in Afghanistan zu“. – „Außenminister Maas gibt zu: ‚Wir haben die Lage falsch eingeschätzt“. Und als die Taliban Kabul eingenommen haben, darf Bild richtig draufhauen: „Wie im Mittelalter. Terror-Islamisten teeren ihre ersten Opfer“. Die Opposition von rechts bis links ist sich einig: Die Bundesregierung, US-Präsident Joe Biden: Sie alle haben die Lage falsch eingeschätzt. Es gab keinen Plan B. Der Westen hat total versagt.
  • Doch auch in den seriösen Medien ist man sich im Großen und Ganzen einig in der Bewertung: Die Politik der westlichen Demokratien ist gescheitert. Der Westen hat sich gegenüber den alteingesessenen und überkommenen Strukturen eines islamisch geprägten Staates nicht durchsetzen können. Ein schwerer Rückschlag, eine infame Niederlage für das Ansehen von Aufklärung und Fortschritt. Wohl auch für die Zukunft.
    China, Russland und Staaten, die nach wie vor einem radikalen Islam huldigen und mehr oder weniger geheim den islamistischen Terror unterstützen, triumphieren. China hat bereits seine Bereitschaft zu „freundlichen Beziehungen“ mit dem Taliban-Regime geäußert. In Russland wartet man wohl noch etwas ab, will sich aber in Kabul schon mal mit einem Taliban-Vertreter treffen, weiß man beim Deutschlandfunk.

Niederlage, Rückschlag, schwerer Verlust des Ansehens: Was ist dran? Auch wir fragen uns als Humanisten:

  • Wie konnte es zu diesen katastrophalen Fehleinschätzungen kommen? 20 Jahre im Land, und nichts gelernt? Haben sich die Westmächte nicht vertraut gemacht mit dem Land, mit dem Volk, dass sie so wenig vorbereitet waren auf die Rückkehr der Taliban, auf die Hilflosigkeit der afghanischen Regierung, die Schwäche von Militär und Bürokratie, die sie 20 Jahre lang angeblich so gut geschult hatten?
  • Wie konnten sich die ideologisch im Mittelalter stehengebliebenen Islamisten trotz Anwesenheit der westlichen Kräfte so schlagkräftig organisieren?
  • Haben die demokratischen Staaten inklusive Deutschland wirklich genug getan, um den Menschen dort unsere westlichen Werte – individuelle Freiheit, Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Solidarität – bekannt zu machen, die unschätzbaren Vorteile einer offenen Gesellschaft zu propagieren?
  • Haben alle Hilfsmaßnahmen – auch der NGO! – wie der Bau von Schulen, die Ausbildung medizinischen Personals, die Einrichtung modern organisierter Polizei- und Militäreinheiten nicht ausgereicht, um die Menschen für die Prinzipien einer aufgeklärten und fortschrittlichen Gesellschaft zu gewinnen?
  • Ist eine Gesellschaft wie in Afghanistan tatsächlich noch so stark von Religion und rückständigen Stammesriten geprägt, dass sie den Lockungen und Drohungen einer reaktionären und terroristischen Organisation erliegt?
  • Würde sich eine solche Gesellschaft eher überzeugen lassen von einer säkular humanistischen Leitkultur, die auch die Makel der westlichen Demokratien nicht beschönigt?
    Auch wir können und ja nicht immer und überall mit blütenweißen Westen schmücken. Als gäbe es bei uns keine Huldigung von Reichtum und rücksichtslosem Wirtschaftswachstum auf Kosten von Verteilungsgerechtigkeit, Natur und Umwelt. Zeichnet sich doch auch unsere Politik oftmals aus durch Schwerfälligkeit gegenüber Forderungen aus Wissenschaft und Forschung, durch leidigen Bürokratismus, durch Gefühllosigkeit gegenüber schwächeren Nationen und Menschen in Not.

Fragen über Fragen, auch für uns Humanisten. Aber angesichts der Ereignisse in Afghanistan ist „westliche“ Arroganz genauso fehl am Platz wie falsche Rücksichtnahme gegenüber einem „politischen Islam“. Nein, unsere Kritik am radikalen Islam ist keine Islamophobie und schon gar kein Rassismus, wie manche Ideologen glauben.